Direkt nach Indien?

AUSGABE 05 | 2016
Was den Subkontinent für europäische Kunststoffverarbeiter attraktiv macht

Mittelständische Unternehmen werden in ihren Strategien einerseits durch große Kunden und andererseits durch die Chancen neuer Märkte getrieben. Gründe, nach China „zu gehen“, sind hinlänglich bekannt. Auf der einen Seite sind die eigenen Kunden v.a. aus der Automobilindustrie schon lange in China aktiv. In der Folge sind die bekannten Rohstoff- und Maschinenhersteller vor Ort. Die „Großen“ möchten idealerweise auch vor Ort von den gewohnten Zulieferern aus Europa unterstützt werden. Und somit folgen die mittelständischen Kunststoffverarbeiter ihren Kunden. Auf der anderen Seite ist China ein riesiger Binnenmarkt auch für viele neue Anwendungen. Die Rolle Chinas kann nicht mehr die verlängerte günstige Werkbank sein, denn das Lohnniveau und der Standard steigen. Die mit dem Gang nach China verbundenen Nachteile sind gut kalkulierbar, weil immer mehr Erfahrungen und Informationen vorliegen. Man weiß also, worauf man sich einlässt.

Unternehmen, die heute darüber nachdenken, außerhalb Europas einen neuen Markt und Produktionen für die eigenen Produkte und Dienstleistungen aufzubauen, wissen: In China werden sie ganz gewiss nicht mehr die ersten sein, und immer mehr chinesische Unternehmen können die notwendigen Dienste heute genauso gut anbieten.

Somit wird nach Alternativen gesucht. Indien ist eine solche Alternative und von den BRICS-Staaten heute das einzige Land, bei dem nicht unterschwellige Ängste herrschen, die Wirtschaft könnte kurzfristig kollabieren. Neue Gespräche der Europäischen Union mit Indiens Regierung über eine Freihandelszone – sie wäre mit mehr als 1,85 Mrd. Menschen die größte der Welt – lassen Hoffnungen keimen. Indiens Wirtschaftswachstum beträgt in den letzten Jahren etwa 7 %. Mit Indien sind jedoch Vorbehalte wie starke Korruption, bürokratische Hürden, Unzuverlässigkeit, unüberwindbare Kastengegensätze und eine kollabierende Verkehrsinfrastruktur verbunden. Sie treffen sicherlich teilweise zu.

Ich hatte das Glück, im Rahmen eines Projektes Indien über die letzten fünf Jahre sehr regelmäßig zu bereisen und viele Firmen vor Ort zu besuchen. Man findet sehr oft die typischen „Garagenfirmen“, denen man qualitativ nur wenig zutraut. Es gibt aber auch absolute High-Tech-Unternehmen in Indien, beispielsweise die größte Baumwollspinnerei der Welt mit modernsten Produktionsmaschinen aus Europa und Japan. Viele europäische Unternehmen haben schon Dependencen in Indien. Man findet aber auch rein indische Zulieferer, die sich vor europäischem Wettbewerb nicht fürchten müssen. Übrigens stehen sehr viele der erfolgreichsten Unternehmen in Indien unter lokalem Management – dies gilt auch für Satelliten europäischer Firmen.

Ein Erfolg in Indien bedarf allerdings tatsächlich eines langen Atems und einer großen Toleranz. „Wenn man es als ausländisches Unternehmen in Indien geschafft hat, sind alle anderen Regionen ein Kinderspiel“, betonen Management-Bücher. Dass sich der Weg langfristig lohnt, wird deutlich, wenn man sich eine nach Wohlstand strebende Bevölkerung von knapp 1,3 Mrd. Menschen und einen stetig wachsenden Mittelstand von heute über 200 Mio. Menschen vor Augen führt. Seit der Wahl von Premierminister Narendra Modi im Jahr 2014 spürt man einen regelrechten Aufbruch im Land. Die Verkehrsinfrastruktur wird gezielt verbessert, die Sauberkeit in Städten nimmt sichtlich zu, und auch für uns selbstverständliche Projekte wie der Zugang für jeden zu einer ordentlichen Toilette bis 2025 sind wichtige Vorhaben, die Chancen auch für europäische Unternehmen der Kunststoffverarbeitung mit sich bringen.

Mich wundert es somit nicht, wenn ein Geschäftspartner vor einigen Monaten überlegte, strategisch mit seinem Unternehmen direkt in Indien zu starten und nicht erst den Weg über China zu nehmen.

Dr. Arno Rogalla ist Autor der monatlich erscheinenden Kolumne im K-Profi

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