Die Kunst der Zurückhaltung

AUSGABE 01/02 | 2020
Oder: Wie ein ungeschickter Kommentar unnötig Distanz aufbaut

Wir alle kennen die Situation: Mit stolz geschwellter Brust führen wir Besucher erstmals durch unsere Firma, und spontan empfängt man Kommentare wie „Das Lager ist aber voll …“, „Die Materialabläufe kann man aber optimieren…“ oder „Der Zyklus läuft aber langsam…“, um nur harmlose Beispiele zu nennen. In dem Augenblick haben wir einen Kloß im Hals. Ohne dass wir es wollen, baut sich ein Groll in zwei Richtungen auf: Wir suchen nach einer Begründung für den Zustand, und wir haben zu dem Besucher sofort ein distanziertes Verhältnis; die positive Grundstimmung ist gestört. Auf der anderen Seite ärgern wir uns auch über uns selbst, da die angesprochenen Mängel lange bekannt sind.

Der Besucher kennt die Hintergründe für den erlebten Zustand nicht. Er kommentiert „nur“ das, was er sieht, und meint es sicherlich nicht böse. Er freut sich, seine Kompetenz auszustrahlen und vielleicht aus der Situation heraus während der Führung einen Gedankenaustausch starten zu können. Er registriert jedoch nicht, dass die „ausgiebige Führung“ auf einmal viel schneller verläuft und bestimmte Bereiche ganz ausgespart werden. Die Offenheit des Gastgebers ist nämlich nun „eingeschränkt“.

Als Besucher sollte man in den meisten Fällen sicher sein, dass der Gastgeber sehr wohl weiß, wo in seinem Unternehmen bzw. Bereich der Hase im Pfeffer liegt. Häufig, so meine Erfahrung, mangelt es an der Umsetzungsmöglichkeit – v.a. an Ressourcen oder Finanzmitteln. Bei einem gut geführten Unternehmen ist die Verbesserung vielleicht bereits geplant, aber aufgrund anderer Prioritäten erst für einen späteren Zeitpunkt terminiert. Der Besucher kann diese Hintergründe schlicht nicht kennen.

Die Kunst der Zurückhaltung liegt darin, genau diese Situation zu vermeiden. Bei einem Erstbesuch sollte man negative Kommentierungen komplett vermeiden, es sei denn, man hat die Aufgabe, genau dies zu tun. Halten Sie die Augen bei Rundgängen offen, kommentieren Sie positiv und fragen Sie nach Details, die Sie interessieren. So werden Sie mehr sehen und lernen dürfen. Sie erfahren ggf. auch vom Gastgeber direkt selbst, welche Optimierungsprogramme laufen. Erst, wenn er sich geöffnet hat und Vertrauen aufgebaut wurde, kann man vorsichtig Anregungen geben, die dann auch richtig verstanden werden.

Die Erkenntnis gilt auch für Übergabegespräche bezogen auf eine Stelle. Der Vorgänger sitzt dem Nachfolger gegenüber, und durch einen einzigen ungeschickten Kommentar bei einem ersten Treffen macht letzterer die Schotten dicht. Dabei hätte er seinem Nachfolger gern noch so viel mit auf den Weg gegeben und dafür gesorgt, dass er nicht bei Null anfangen muss. Die Chance ist dann leider vertan. Es wird lange dauern, bis der „erste Eindruck“ revidiert und Vertrauen aufgebaut wird. Selbst wenn wir Dinge besser wissen und vielleicht aus besser können: Wir können immer vom anderen lernen. Mit Bescheidenheit zum richtigen Zeitpunkt erreicht man mehr.

Dr. Arno Rogalla ist Autor der monatlich erscheinenden Kolumne im K-Profi

Sie finden meine Sichtweise interessant und haben vielleicht eine eigene Meinung?
Ich freue mich auf einen Austausch. Sprechen Sie mich gerne an.

Im Netzwerk teilen:

Share on xing
XING
Share on linkedin
LinkedIn
Share on email
Email
Share on print
Print
Scroll to Top